Zwischen 1961 und 1968 rollte eine Mercedes-Baureihe vom Band, die bis heute Liebhaberherzen höherschlagen lässt: der Mercedes-Benz W110. Als Nachfolger der „Ponton“-Modelle (W120/121) markierte er den Beginn einer neuen Ära – sowohl technisch als auch stilistisch. Und obwohl er unter dem Spitznamen „kleine Heckflosse“ bekannt wurde, steht der W110 seinem großen Bruder, dem W111, in vielen Bereichen kaum nach.
Design: Eleganz mit Ecken und Flossen
Auf den ersten Blick fällt eines sofort ins Auge: die markanten Heckflossen. Inspiriert vom US-Design der 50er-Jahre, sollten sie nicht nur dem Zeitgeist entsprechen, sondern auch beim Einparken helfen – Mercedes selbst nannte sie „Peilstege“. Entworfen wurde die kantige Karosserie vom Team um Chefdesigner Karl Wilfert. Trotz der Anleihen am amerikanischen Stil blieb der W110 typisch Mercedes: klar, sachlich, stilvoll.
Besonders clever war die damals neue Panorama-Verglasung, die die Sicht deutlich verbesserte – ein Vorteil im dichten Stadtverkehr wie auch auf der Landstraße. Auch innen bot der Wagen durchdachte Lösungen, zum Beispiel ein optionaler dritter Sitzplatz vorne, möglich durch ein klappbares Kissen zwischen Fahrer- und Beifahrer.

Sicherheit, die ihrer Zeit voraus war
Mit dem W110 zeigte Mercedes, wie ernst man es mit dem Thema Fahrzeugsicherheit meinte. Die Limousine war eine der ersten ihrer Klasse mit einer stabilen Fahrgastzelle und gezielten Knautschzonen – ein Konzept, das sich heute in jedem modernen Fahrzeug wiederfindet. Sogar Crashtests wurden durchgeführt – für damalige Verhältnisse absolut fortschrittlich. Die Türen waren mit sogenannten Keilzapfen-Schlössern ausgestattet, die ein ungewolltes Öffnen bei Unfällen verhinderten – auch das ein echter Meilenstein in der Sicherheitsentwicklung.
Die Stars im Alltag: 190 D und 200 D
Vor allem als Diesel war der W110 ein Dauerbrenner – im wahrsten Sinne. Modelle wie der 190 D und später der 200 D waren in Deutschland lange Zeit die bevorzugten Fahrzeuge von Taxiunternehmen. Kein Wunder: Die Kombination aus robuster Technik, niedrigem Verbrauch, viel Platz und hohem Fahrkomfort war unschlagbar. Mit rund 55 PS war man zwar keine Rakete auf der Straße, aber für den Stadtverkehr reichte das allemal – und die Zuverlässigkeit war legendär.
Mercedes hatte in dieser Zeit in Deutschland fast ein Monopol auf Diesel-Pkw – kein anderer Hersteller bot ähnliche Fahrzeuge an. Erst mit dem Opel Rekord 2100 D 1972 kam wieder ernsthafte Konkurrenz auf den Markt.
Modellpflege und Variantenvielfalt
Die Baureihe W110 wurde im Lauf ihrer siebenjährigen Produktionszeit stetig weiterentwickelt. Anfangs kamen die 190er Modelle mit Benzin- oder Dieselmotor auf den Markt, 1965 folgten die überarbeiteten 200er, ebenfalls als Benziner oder Diesel. Neben stärkeren Motoren – bis zu 95 PS im 200er – erhielten diese Varianten auch optische Updates wie vergrößerte Rückleuchten, zusätzliche Nebelleuchten und einen größeren Tank.
Der 230 war das Topmodell der Baureihe: ein 2,3-Liter-Reihensechszylinder mit bis zu 120 PS. Damit schaffte die kleine Heckflosse stolze 175 km/h – ein Tempo, das man ihr auf den ersten Blick kaum zutraute. Die Unterschiede zu den schwächeren Modellen waren allerdings dezent: Lediglich der Schriftzug „230“ am Heck verriet, was unter der Haube steckte.

Smarte Technik im Detail
Technisch war der W110 ein echter Mercedes: solide und durchdacht. Serienmäßig wurde ein synchronisiertes Viergang-Schaltgetriebe mit Lenkradschaltung verbaut – eine Mittelschaltung war ab 1964 ebenfalls zu haben. Besonders fortschrittlich war das optionale Viergang-Automatikgetriebe, das im Gegensatz zu vielen anderen Automatiklösungen der Zeit sogar vier echte Gänge bot – damals keine Selbstverständlichkeit.
Auch bei der Bremsanlage war Mercedes der Zeit voraus. Ab 1963 verfügten alle Modelle serienmäßig über eine Zweikreisbremsanlage mit vorderen Scheibenbremsen, was die Sicherheit nochmals erhöhte. Die Hinterachse mit Eingelenk-Pendelachsen und Ausgleichsfeder sorgte für angenehmen Federungskomfort.
Letzte Modellpflege und Ende einer Ära
1967 gab es ein letztes technisches Update: eine neue Sicherheitslenksäule, die sich bei einem Aufprall teleskopartig zusammenschob – ein weiteres Detail, das den W110 zur Sicherheitsikone seiner Zeit machte. Auch das Lenkrad und die Bedienelemente wurden überarbeitet.
Im Februar 1968 war schließlich Schluss: Nach knapp 7 Jahren Bauzeit und über 628.000 produzierten Fahrzeugen lief der letzte W110 vom Band. Seine Nachfolger waren die sogenannten „Strich-Acht“-Modelle der Baureihen W114/W115, die ab 1967 produziert wurden.
Heute: Beliebt und begehrt
Der Mercedes W110 ist heute nicht nur ein Klassiker, sondern auch ein begehrter Oldtimer. Besonders die Dieselmodelle in gutem Zustand sind selten – viele wurden über Jahrzehnte im täglichen Einsatz verschlissen. Wer heute eine „kleine Heckflosse“ auf der Straße sieht, erlebt also ein Stück deutscher Automobilgeschichte – charmant, solide und immer noch ein echter Hingucker.
Technische Daten (Beispiel: Mercedes-Benz 200 D, W110 Serie II)
Merkmal | Daten |
---|---|
Bauzeitraum | 1965–1968 |
Motor | 4-Zylinder-Dieselmotor (OM 621) |
Hubraum | 1.988 cm³ |
Leistung | 60 PS (44 kW) bei 4.000 U/min |
Höchstgeschwindigkeit | ca. 130 km/h |
Verbrauch (Durchschnitt) | ca. 9,5 Liter / 100 km (Diesel) |
Getriebe | 4-Gang-Schaltgetriebe |
Länge | 4.730 mm |
Breite | 1.770 mm |
Höhe | 1.470 mm |
Leergewicht | ca. 1.230 kg |
Tankinhalt | 65 Liter |
Neupreise (Stand 1965–1968)
Modell | Grundpreis (DM) |
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Mercedes 190 | ca. 9.500 DM |
Mercedes 190 D | ca. 9.990 DM |
Mercedes 200 | ca. 10.450 DM |
Mercedes 200 D | ca. 10.740 DM |
Mercedes 230 | ca. 11.500 DM |
Zum Vergleich: Ein durchschnittliches Monatsgehalt in Deutschland lag 1965 bei rund 800–1.000 DM.
Fazit:
Der W110 war vieles zugleich: ein Alltagsheld, ein Technologieträger und ein Designobjekt. Seine Mischung aus funktionalem Luxus, technischer Innovation und zurückhaltender Eleganz macht ihn bis heute zu einem faszinierenden Klassiker. Wer sich für automobile Geschichte interessiert, kommt an der kleinen Heckflosse nicht vorbei.